15. Kapitel
Es war Viertel nach zehn, als die Pygmäen kamen.
Sprotte und Frieda waren trotz ihrer dicken Mäntel so durchgefroren, dass sie mit den Zähnen klapperten. Ihre Füße waren pitschnass vom Regen und von den Haaren tropfte ihnen das Wasser in den Kragen.
Widerlich.
Warum muss es ausgerechnet heute regnen?, dachte Sprotte wütend. Warum, warum, warum? Gerade wollte sie sich aufrichten, weil ihre Beine eingeschlafen waren und ihre Knie höllisch wehtaten, als sie die Fahrräder hörte. Das Knirschen der Reifen auf dem nassen Schotter, das Klappern der Schutzbleche - und die Stimmen der Jungs.
»So ein verdammtes Sauwetter!«, sagte Torte.
Und Steve maulte: »Hätten wir die Sache nicht auf morgen verschieben können?«
Sprotte hörte, wie sie anhielten, abstiegen und ihre Räder gegen die Hecke lehnten.
»Hört endlich auf zu meckern«, sagte Fred. »Ist doch prima, das Wetter. So ist wenigstens kein Mensch auf der Straße oder guckt sich die Blumen in seinem Garten an. Außerdem hätten wir's längst hinter uns, wenn Steve sein Fahrrad in Schuss hätte.«
»Da hat jemand dran rumgefummelt!«, rief Steve. »Ich schwör's euch.«
»Ja, ja!«, sagte Fred. »Still jetzt.«
Oma Slättbergs Tor quietschte leise, als er es öffnete. Sprotte und Frieda pressten sich so dicht wie möglich an die tropfnassen Baumstämme. Die Jungen blieben zögernd stehen und sahen zum Haus hinüber.
»Da ist alles dunkel«, flüsterte Willi.
»Na klar«, flüsterte Fred zurück. »Hier ist keiner. Nun macht euch nicht in die Hosen.«
Im Schneckentempo schlichen sie auf das Haus zu.
Nun macht schon, dachte Sprotte. Noch ein paar Schritte und sie würden unter dem Netz stehen.
»He, Fred!«, sagte Steve und blieb stehen. »Ich weiß nicht. Meinst du wirklich, dass wir da einfach reingehen können?« Seine Stimme klang schrill vor Aufregung.
»Oh, komm schon«, sagte Fred ärgerlich. »Wir machen doch nichts kaputt oder so. Und klauen wollen wir auch nichts.« »Außer dem Schatz«, sagte Torte und kicherte nervös.
»Es ist aber doch irgendwie Einbruch«, sagte Steve.
»So ein Blödsinn!«, zischte Fred. »Wir haben doch einen Schlüssel. Haben Einbrecher etwa 'nen Schlüssel?«
Steve antwortete nicht. Keiner sagte was.
»Los jetzt!«, raunte Fred und die vier setzten sich wieder in Bewegung.
Jetzt!, dachte Sprotte. Ihr Herz hüpfte wie ein Jojo. Sie stieß einen schrillen Pfiff aus und die vier Wilden Hühner zogen an den Netzleinen.
Sprottes Pfiff ließ die Pygmäen zu Salzsäulen erstarren. Wie das Netz einer Riesenspinne fiel Oma Slättbergs Obstbaumnetz auf sie herab. Überrascht stolperten sie gegeneinander, verhedderten sich noch mehr und plumpsten wie ein Haufen gefangener Fische auf den matschigen Boden.
»Maßarbeit!«, rief Sprotte, sprang auf und rannte mit Frieda auf den zappelnden Haufen zu. Fluchend und wild durcheinander schreiend lagen die Pygmäen auf Oma Slättbergs Gartenweg.
Melanie und Trude kamen aus dem Haus gerannt. Trude richtete eine Taschenlampe auf die Gefangenen. Klitschnass vom Regen sahen die Pygmäen wirklich wie merkwürdige Fische aus. Zwei von ihnen schafften es, sich hinzuknien, und starrten die Mädchen wütend durch die Maschen des Netzes an. »Lasst uns sofort raus!«, schnauzte Fred.
Kichernd hakte Melanie sich bei Sprotte und Frieda ein. »Na, haben wir das nicht gut gemacht?«
»Ihr blöden Gänse!«, schimpfte Torte.
»War gar nicht so einfach zur richtigen Zeit zu ziehen«, sagte Trude.
Sprotte ging in die Hocke und grinste den wutschnaubenden Fred an. Willi und Steve hatten sich inzwischen auch hochgerappelt, aber sie waren immer noch sprachlos von dem Schreck. Während Willi wieder mal sein Frankenstein- Gesicht aufgesetzt hatte, guckte Steve einfach nur völlig verblüfft und ein bisschen ängstlich drein.
»Na, ihr Einbrecher?«, sagte Sprotte. »Was sollen wir denn jetzt mit euch machen? Irgendwelche Vorschläge?«
»Das war doch nur Spaß«, kiekste Steve. »So wie ihr das mit der Leiter gemacht habt.«
»Das war was anderes«, sagte Sprotte.
»Wieso das denn?«, fragte Torte und versuchte seinen Arm unter Steves dickem Bein hervorzuzerren. »Was war denn daran anders, he?«
»Keine Polizei!«, stieß Willi plötzlich hervor und es klang fast ein bisschen panisch. »Bitte nicht!«
»Wie kommst du denn auf so einen Blödsinn?«, fragte Sprotte ärgerlich. »Ich will nur den Schlüsselbund von meiner Oma wiederhaben. Dann lassen wir euch laufen.«
»Rück ihn schon raus, Fred!«, sagte Torte.
Mürrisch versuchte Fred an seine Hosentasche zu kommen, aber in dem Gewirr von Armen und Beinen war das nicht ganz einfach.
»Ich komm nicht dran. Keine Chance. Steves dicker Hintern ist im Weg.«
»Warte, ich versuch's«, sagte Steve und griff nach einigen Verrenkungen in Freds Hosentasche. »Ich hab ihn.«
»Na, ein Glück!«, stöhnte Torte. »Dann gib ihnen das Ding endlich!« Er nieste. »Verdammt, jetzt hab ich mich erkältet. Daran seid ihr schuld.«
»Wirst schon nicht tot umfallen davon!«, sagte Melanie spöttisch. Kichernd stieß sie Trude an. »Mann, das werd ich nie vergessen, wie blöd die jetzt aussehen.«
»Verflixt«, stöhnte Steve. »Jetzt sind mir die Schlüssel in den Matsch gefallen.«
»Wenn das ein Trick sein soll«, sagte Sprotte.
»Ist kein Trick, wirklich nicht!«, beteuerte Steve und suchte fieberhaft in der matschigen Erde herum.
»Nee, der ist so blöd!«, knurrte Fred düster. »Hast du ihn jetzt endlich? Ich spür meinen Hintern schon nicht mehr.«
»Ja, da ist er!«, rief Steve erleichtert, zwängte seine kurzen, dicken Finger durch das Netz und gab Sprotte den schlammverschmierten Schlüsselbund.
»Pfui Teufel«, sagte Sprotte angeekelt. »So eine Schweinerei.«
»Tut mir Leid«, sagte Steve mit verlegenem Lächeln. »War echt keine Absicht.«
»Sollen wir sie jetzt rauslassen?«, fragte Trude.
»He, da kommt ein Auto«, sagte Willi erschrocken.
Erstaunt richtete Trude die Taschenlampe aufs Gartentor. Da hielt wirklich ein Auto. Grün und weiß.
»Polizei!«, flüsterte Sprotte. »Was soll das denn?«
»Die habt ihr gerufen!«, zeterte Willi. »Ihr gemeinen Kühe!«
Panisch zerrte er an dem Obstbaumnetz herum. »Ich will raus hier!«
»He, beruhig dich!«, sagte Fred.
»Wir haben die nicht gerufen!«, beteuerte Sprotte. »Heiliges Ehrenwort. Wir sind doch nicht verrückt geworden.«
Gebannt starrte sie auf das Auto. Die Türen gingen auf und zwei Polizisten stiegen aus.
Melanie zerrte an dem Netz. »Los, helft mir mal«, zischte sie. Gemeinsam zogen die Wilden Hühner an dem Netz herum, aber die Jungs hatten sich so fest darin verfangen, dass sie es einfach nicht losbekamen.
»Sie kommen rein!«, flüsterte Frieda.
Die Polizisten öffneten das Gartentor. Der eine war riesengroß und ziemlich dick, der andere klein und mager. »Guten Abend, die Herrschaften«, sagte der Kleine.
»Guten Abend!«, sagten die Wilden Hühner im Chor.
»Guten Abend!«, murmelten die Pygmäen in ihrem Netz.
»Ist das nicht schon ein bisschen spät für euch?«, fragte der große Polizist, während der andere erstaunt auf das gefüllte Obstbaumnetz guckte.
»Och«, sagte Sprotte, »wir .. . wir haben ja erst um zehn Schule morgen.«
»Soso!« Die beiden Polizisten grinsten sich an. »Naja, aber trotzdem. Was macht ihr denn eigentlich da, wenn ich mal fragen darf?«
Angstvoll sahen die Jungs die Mädchen an.
»Wir feiern 'n bisschen«, sagte Melanie. »Wissen Sie - ich hab nämlich Geburtstag. Und da haben wir eben so verrückte Spiele gemacht.«
»Das sieht allerdings ziemlich verrückt aus«, sagte der kleine Polizist. »Wie heißt denn das Spiel, das ihr da gerade spielt?« »Pygmäen fangen«, sagte Frieda.
»Aha.« Die Polizisten wechselten wieder einen Blick. Die Jungs gaben immer noch keinen Mucks von sich.
»Könnten Sie uns vielleicht helfen das Netz wieder abzubekommen?«, fragte Trude verlegen. »Wir schaffen es nämlich irgendwie nicht.«
»Na klar!«, sagten die beiden Polizisten und machten sich an die schwierige Aufgabe.
»Kommen Sie eigentlich zufallig hier vorbei?«, fragte Sprotte. Ein Bein und ein Arm von Fred waren schon frei.
»Nein, wir sind angerufen worden«, sagte der Große und hielt eine Seite des Netzes hoch. »So, kriecht hier raus.«
Fred und Torte krabbelten matschverschmiert und triefend in die Freiheit. Seufzend richteten sie sich auf.
»Mein Arm sitzt noch fest!«, jammerte Steve.
»Warte, das haben wir gleich«, sagte der kleine Polizist.
»Wieso angerufen?«, fragte Sprotte ungläubig. »Wer denn?« »Ein Herr Feistkorn!«, antwortete der Große, während er Steve am Arm ins Freie zog. »So, jetzt fehlt nur noch einer.« »Ich komm schon!«, sagte Willi leise.
»Na, hätt ich mir denken können!«, murmelte Sprotte.
»Über ruhestörenden Lärm hat er sich beschwert«, sagte der kleine Polizist.
»Und einen versuchten Einbruch durch eine Jugendbande hat er gemeldet«, sagte der andere. »Aber davon habt ihr nichts bemerkt, oder?«
Die Wilden Hühner schüttelten energisch die Köpfe. Die Pygmäen auch.
»Der Feistkorn spinnt!«, sagte Sprotte. »Der erzählt dauernd so einen Mist. Und ewig spioniert er hinter einem her.«
»Er wohnt nebenan?«, fragte der große Polizist und zog seinen Schreibblock hervor.
»Ja, ja.« Sprotte guckte besorgt auf den Block. »Was schreiben Sie denn da auf?«
»Ach, nur Routine«, sagte der Polizist. »Dass wir hier waren und nichts Verdächtiges bemerkt haben.«
»Ach so!« Wütend guckte Sprotte zu Herrn Feistkorns Hecke hinüber. »Das ist typisch. Echt typisch. Sonst steckt er dauernd seine dicke Nase da rüber, aber jetzt lässt er sich nicht blicken.«
»So ein Feigling!«, sagte Melanie. Und schenkte den beiden Polizisten ihr strahlendstes Lächeln.
»Das ist meistens so«, sagte der kleine Polizist. »Die Leute, die bei uns anrufen, lassen sich selten blicken. Manchmal sagen sie nicht mal ihren Namen am Telefon. Na ja.« Er sah die pitschnassen Kinder an. »Wer wohnt denn nun eigentlich hier?«
»Ich«, sagte Sprotte hastig. »Und meine Freundinnen übernachten heute hier.«
»Hm, und deine Eltern, wo sind die?«
»Meine Mutter arbeitet noch«, sagte Sprotte und bekam ganz heiße Ohren. »Aber sie kommt bald. Ganz bestimmt.«
»Und dein Vater?«
»Hab ich nicht«, sagte Sprotte.
»Na gut.« Die Polizisten sahen sich an. »Euch alle hätten wir sowieso nicht mitgekriegt. Dann wollen wir mal die Herrn nach Hause bringen.«
»Was?« Entsetzt rissen die Jungs die Augen auf. »Aber - aber wir kriegen Heidenärger, wenn wir da im Bul ... im Polizeiauto ankommen«, stammelte Fred. »Mein Vater denkt doch, ich hab Gott weiß was angestellt.«
»Mein Vater schlägt mich tot«, murmelte Willi. »Der schlägt mich glatt tot.«
Sprotte rieb sich die Nase. »Ich hab ganz vergessen zu sagen«, rief sie plötzlich, »dass die Jungs natürlich auch hier schlafen. Ist doch klar.«
»Das fällt dir aber ziemlich spät ein«, sagte der kleine Polizist. »Och, das kommt nur, weil ... weil ich schon so müde bin!«, sagte Sprotte und gähnte ausgiebig.
Die beiden Polizisten steckten die Köpfe zusammen. Der eine guckte auf seine Uhr. Sie tuschelten ziemlich lange miteinander. Dann drehten sie sich schließlich um. Ängstlich starrten die Kinder sie an.
»Also gut«, sagte der Große. »In einer Stunde kommen wir noch mal vorbei. Wenn deine Mutter bis dahin nicht da ist, bringen wir eine Ladung von euch nach Hause.«
»Aber ...«
»Kein Aber. Sollte sich bis dahin noch mal jemand wegen Lärm beschweren, bringen wir euch alle nach Hause. Klar?« »Klar!«, murmelten die Wilden Hühner.
»Klar!«, murmelten die Pygmäen.
»Na, dann bis in einer Stunde«, sagte der Kleine und legte den Finger an die Mütze. »Und legt euch ruhig schon mal ein bisschen aufs Ohr.«
»Machen wir«, brummte Sprotte.
Dann waren die beiden Polizisten verschwunden.
»Kommt deine Mutter wirklich bald?«, fragte Fred.
»Keine Spur!«, sagte Sprotte düster und rieb sich wie verrückt die Nase. »Und ich bin nicht sicher, dass ich sie in einer Stunde auftreibe.«